Frohes Neues aus der Zone (Silvester 2016)
Teil 1
Frohes Neues aus der Zone
30. Dezember
Ich weiß nicht, ob die besten Sachen spontan passieren, eigentlich glaube ich nicht an solche Weisheiten, aber diesmal war es wirklich der Fall. Es war Ende Dezember letzten Jahres, der letzte Tag, oder besser gesagt Abend meines viertägigen legalen Aufenthaltes in der Sperrzone. Hinter mir lagen 1800 Kilometer langer Autofahrt von Deutschland über Polen in die Ukraine, bis zu meiner Heimatstadt Nischyn und dann noch einmal 250 Kilometer über Kiew nach Tschernobyl. Die vier Tage Zone waren etwas anderes als die letzten, unzähligen Trips nach Tschernobyl, viel individueller und persönlicher. Diesmal war ich ganz ohne Begleitung da, nur ich und mein langjähriger Freund, der aber auch gleichzeitig der offizielle Guide war. Ich halte nicht viel von Weihnachten, während meiner sowjetischen Kindheit gab es offiziell keine. Wie man so schön sagt: "was man nicht kennt kann man auch nicht vermissen" um es auf den Punkt zu bringen. Und doch hatte dieser Trip irgendeine Art weihnachtlichen Beigeschmacks. Die erst verregnete, dann später doch noch zum Glück verschneite Zone, die touristenleere Geisterstadt Pripjat, das AKW, dass ich ganz zufällig mit einem japanischen Fernsehteam zusammen betreten durfte, die Stadt Tschernobyl wie leergefegt, weil die meisten Zonenarbeiter bereits über die Festtage abgereist waren. All das hinterließ den Eindruck langsam aber sicher abnehmender Festtagshektik. Selbst im AKW wurde bereits die Heizung abgestellt, so dass einer von dem japanischen Kamerateam sich auf eisglatten Fliesen im "goldenen Korridor" auf die Nase legte.. Das Wetter nahm vom Tag zu Tag immer mehr winterliche Formen an und so zeigte das Thermometer am Tag meiner Abreise aus der Zone stolze minus 10 Grad. Die Straße war nur notdürftig vom Schnee geräumt und überhaupt nicht beleuchtet, so entschied ich mich bei der erst besten Möglichkeit halt zu machen um zu übernachten und am nächsten Tag im Hellen weiter nach Kiew zu fahren. Die Gelegenheit kam schneller als gedacht - Iwankowo, die nächst gelegene größere Provinzstadt liegt ca. 30 Kilometer von dem Kontrollpunkt in Dityatki entfernt..
"Das Gasthaus"
Die außerordentlich üppige Beleuchtung am Straßenrand deutete auf ein Hotel hin. Der urige Aushang "Das Gasthaus" lud buchstäblich zum Entspannen ein. Doch als ich die Tür öffnete hatte ich erst gedacht mich verirrt zu haben: wummernde Beats russischer Popmusik und angesoffene Hackfressen, die in mir leichte Assoziationen an russische Mafiafilmhelden der 90er Jahre weckten, machten keinen sonderlich gemütlichen Eindruck. Ein wenig Mut gefasst ging ich an die Theke, denn so wie es aussah, war es auch gleichzeitig die Rezeption. Die Thekenfrau erklärte mir, dass hier heute eine Firmenfeier wäre, aber sie hätten auch Zimmer frei. Ich checkte in ein sehr gemütliches, mit vielen Jagdtrophäen geschmücktes Zimmer ein, doch eins wurde mir schnell klar - dem Lärm kann man nur mit einer ordentlichen Portion Alkohol entgegenwirken. Ich ging runter und fragte nach einem Drink, welchen ich zu meinem Erstaunen ohne Entgelt bekam, als Entschädigung für die Lärmbelästigung, sozusagen. Mit jedem weiteren Drink passte ich mich der Kulisse mehr und mehr an. An meinen Ohren zogen Dieter Bohlen, Thomas Anders und wie sie damals alle hießen vorbei. "Wie in Pripjat", dachte ich mir, die Achtziger sind hier wohl auch für immer stehen geblieben.. So zogen sich noch einige Stunden und Drinks in die Länge, bis ich langsam aber sicher begann mir blöd vorzukommen, da die wenigen gebliebenen Gäste langsam merkten, dass ich nicht hierher gehöre. Als ich fast schon so weit war meinen komatösen Körper ins Zimmer zu befördern, öffnete sich die Eingangstür und der Raum füllte sich mit mehreren wettergemäß bekleideten Menschen, deren Rucksäcke grösser als sie selbst zu scheinen waren. Sie besetzten einen leeren Tisch neben an und bestellten zu trinken. Es schien so, als ob sie die Bedienung bereits kannten. Diese Entwicklung kam mir interessanter vor als alles was ich bisher an diesem Abend zu sehen bekam und ich blieb weiter an meinem Tisch sitzen. Es waren 3 Jungs und ein Mädel, alle um Mitte zwanzig. Deren Bekleidung und Ausrüstung weckte bei mir den Eindruck als ob sie etwas Großes vorhatten. Als ich zwischen den Fetzen der brummenden Musik das magische Wort "Zone" hörte, fühlte ich mich in meinen Befürchtungen bestätigt: Sie hatten definitiv etwas Großes vor! Ich blieb noch eine Weile sitzen bis in mir, zusammen mit der durch den Alkoholkonsum fallenden Hürde, die Neugier heranwuchs: beim nächsten Blickkontakt stand ich auf und ging rüber zu deren Tisch - "Mit dem kommenden Neuen!", sagte ich und setze mich auf einen freien Stuhl.
Der Plan
Sie wirkten sichtlich irritiert. Womöglich war das mein Camouflage Outfit, das sie nicht richtig einordnen konnten, denn das Tarnmuster war eindeutig nicht einem Jäger zuzuordnen. Der Alkohol half mir direkter zu wirken, ich stellte mich vor und erzählte kurz wo ich noch vor einigen Stunden war und dass ich zufällig mitgekriegt hätte um welches Thema es hier am Tisch ginge.. Blöderweise lockerte sich die Stimmung dadurch überhaupt nicht auf, aber ich blieb trotzdem sitzen und bestellte noch eine Runde. Die Runde kam und half. In solchen Situationen funktioniert es immer nach dem berühmten Nokia - Slogan: "connecting people". Genau.. Kurze Zeit später war das Eis vollständig gebrochen, als einer von Ihnen, draußen beim Rauchen, von ihrem gemeinsamen Vorhaben erzählte. Silvester 2016 sollte in der Zone gefeiert werden und sie würden auf ein Taxi warten, welches hier in Kürze eintreffen sollte.
- "Mutig", sagte ich nur,
- "mein Respekt, bei der Kälte", als im gleichen Augenblick mein mit Alkohol durchtränktes Hirn bereits eine Vision generierte. Ab dann ging es nur noch um die Zone. Im Gespräch stellte sich schnell heraus, dass wir sogar einige gemeinsame Bekannte haben. Ich bestellte eine weitere Runde und stellte zunehmend für mich fest an der Vision Gefallen gefunden zu haben. Irgendwann sagte ich einfach in die Runde:
- "Hey, ich komm mit, oder hat jemand etwas dagegen?"
Sie saßen da und sagten nichts. Dann meinte der eine halblaut:
- "Das Taxi muss mit bezahlt werden.."
Die Zone
Ein sichtlich in die Jahre gekommener Kleinbus schmieß uns nach einer halben Stunde Fahrt in völliger Dunkelheit raus und machte sich ungesund brummend davon. Alle machten sich an die Rucksäcke. Meiner war verdammt schwer, da ich nicht viel Proviant dabei hatte, dafür aber fast nur Alkohol, welchen ich mir zum doppelten Preis im Hotel besorgt hatte. Sie sagten, sie hätten für alle mehr als genug, mindestens für eine Woche, außerdem wären in der Zone noch einige Verstecke mit Proviant gesichert. Bei einem waren sich alle einig - genug Alkohol gibt es nie. Der Rucksack ließ sich nur mit fremder Hilfe anheben, dabei dachte ich mir - was solls, auch wenn wir damit nicht weit schaffen würden, spaßig wird´s so oder so.. Wir gingen lautlos in völliger Dunkelheit ca. eine halbe Stunde, bis der Vordermann plötzlich stoppte. Wir waren unmittelbar vor der Grenze zur Sperrzone. Die südwestliche Sperrzone wird durch einen Fluss umrandet - überquert man die Brücke - so ist man bereits drin. Das Problem dabei ist nur, dass diese Brücken so gut wie rund um die Uhr entweder von Bullen oder von Grenzsoldaten bewacht werden und zwar so, dass man die Gesetzeshüter nicht sieht. Denn eine saftige Strafe ist ein willkommener Nebenverdienst eines jeden ukrainischen Polizisten. Mit den Grenzsoldaten, die oftmals diese Gegend überwachen, sieht es ein wenig komplizierter aus. Damit nicht die ganze Gruppe ins offene Feuer läuft, teilt man sich auf: Jemand Erfahrenes schnappt sich ein Funkgerät und geht alleine aufklären - wenn keine Gefahr da ist, läuft der Rest einige Zeit später hinterher. Wenn etwas nicht stimmen sollte kriegt man es über Funkgerät mit und macht sich schnell aus dem Staub. Selbst wenn der Aufklärende geschnappt wird - versucht er es nach dem Aufklärungsgespräch mit den Bullen direkt noch einmal wieder. Diesmal hat es funktioniert - bei den Temperaturen können die Cops es nur im warmen Auto aushalten, der Sprit kostet aber Geld und der Staat hat keins. Das Schema geht rund auf und wir passieren ungestört die Brücke über den Fluss. Alles was hier an die Zone erinnert ist ein Kranelement das am Ende der Brücke die Fahrbahn für Autos unpassierbar macht. Ansonsten: You´re welcome! Ein kurzer Spaziergang führte uns direkt in das erste verlassene Dorf der Sperrzone - Martynowitschi. Oleg, der als erster in der Reihe ging, verkündete stolz:
- Kameraden, nun seid ihr außerhalb des Wirkungskreises der Gesetzeshüter!"
Mit anderen Worten sollte das heißen, dass man sich ab hier normal fühlen durfte, die größte Gefahr direkt am Anfang des Ausfluges erwischt zu werden sei gebannt. Man war sichtlich erleichtert. Kein ständiges Umdrehen mehr, kein Hineinhorchen in die Stille der Nacht, keine schnellen Durchläufe über die gut sichtbaren freien Stellen. Ich hatte wieder dieses seltsame Gefühl wie jedes Mal beim Betreten der Zone - das Gefühl daheim zu sein. Der Mond schien mit voller Wucht auf den knirschenden Schnee, der Himmel war sternenklar und nichts was man sonst aus der Zivilisation kannte, hatte hier irgendeine Bedeutung mehr. Bis auf den Rucksack. Das verdammte Ding auf dem Rücken geschnallt, schien mittlerweile mit jedem Schritt immer schwerer zu werden. So kam ich auf die grandiose Idee in einem Viehstall einer ehemaligen Kolchose halt zu machen um sich mit Alkohol zu wärmen und somit etwas Gewicht zu reduzieren. Ohne Rucksack kam ich mir eine Weile wie Neil Armstrong bei der Mondlandung vor. Das Ding muss an die 30 Kilo gewogen haben, wovon das Meiste der Alkohol ausmachte. Nach einer Tasse heißen Tees mit Jägermeister und einigen Schlücken Schnaps ging es dann weiter in Richtung Dorf Dibrowa. Ein Drittel des Weges war bereits geschafft. In Dibrowa gibt es einen bewachten Kontrollpunkt den man über Feld umgehen muss. Die weit entfernten Lichter des KP's waren das einzige bis dahin gesichtete Zeichen der Zivilisation, alles andere erstarrte wie gelähmt im nächtlichen Frost, nur die Spiegelung des Mondes in den zerbrochenen Scheiben verlassener Häuser jagte mir ungewohnt Schauer über den Rücken. Nein, hier ist niemand, sagte ich mir. Niemand der das Licht im Haus brennen lassen haben könnte. Wir waren raus aus Dibrowa in Richtung Lubjanka. Oleg ging ein paar Schritte voraus, der Rest der Truppe hinter mir. Plötzlich war der Weg vor uns durch eine Schranke versperrt. So ähnlich wie diese Försterschranken im Wald, um die Durchfahrt mit dem Auto unmöglich zu machen. Oleg umging die Schranke und verschwand mit lautem Fluchen buchstäblich unter die Erde. Es war eine offene Kanalisationsluke. Ich half ihm daraus, zum Glück war bis auf kleine Prellungen am Knie nichts passiert. Wir machten einen kurzen Halt und gingen weiter. Wenige hundert Meter vor den ersten Häusern des Dorfes hielt Oleg plötzlich an und gab ein lautes "Sschhh" von sich. Alle erstarrten. Man hörte ein weit entferntes Hundegebell. Es waren mehr als drei und es deutete auf die Anwesenheit von Menschen hin. Das Gebell schien immer näher zu kommen. Wir lehnten uns mit den schweren Rucksäcken an einen Stapel Baumstämme und warteten. Instinktiv suchte meine Hand das Griffteil meines Jagdmessers unter der Jacke. Es gab mir ein befriedigendes Gefühl. Als das Hundegebell sich wieder langsam entfernte und komplett verstummte, gingen wir weiter.. Lubjanka zog sich unendlich in die Länge, so dass ich eine Zeit lang das Gefühl hatte es würde nie aufhören. Auf der Hauptstraße waren frische Spuren von Autoreifen zu sehen.. Vielleicht waren es Touristen, doch eher die Bullen, die die größeren Dörfer in regelmäßigen Abständen anfuhren. Ab Lubjanka ging es weiter Richtung Bowysche. Diese wirklich gottverlassene Ortschaft ein Dorf zu nennen ist wirklich gewagt - ein Paar alte Holzhäuser im Wald verstreut, das war´s eigentlich. Aber genau an diesem Ort durfte man sich total ungestört fühlen, denn selbst wenn jemand auf die bescheuerte Idee käme hierher zu kommen, wäre bei weitem nicht jeder dazu in der Lage, hatte man mir vorher zugesichert. Als der halbwegs passierbare Weg vor uns plötzlich aufhörte, verstand ich den wirklichen Sinn dieser Aussage. Ab hier ging es durch dichtestes Gestrüpp, umgestürzte Bäume in Schnee und Eis noch mindestens fünf Kilometer weiter. Die Last des Rucksacks war unter solchen Bedingungen wesentlich deutlicher zu spüren. Die kurzen Halts nutzte man um eine Weile nach vorne gebeugt zu stehen, denn den Rucksack absetzen bedeutete wieder aufsetzen, und das gelang keinem von uns mehr so richtig. Diesmal ging Arthur mit seinem GPS gesteuerten IPhone vor uns. Ohne den genauen Punkt auf der GPS Karte zu haben würde nicht mal er das Haus wiederfinden, obwohl er schon mehrere Male dort war. Mir platzte langsam der Kragen und ich fragte ihn ungeduldig wann wir ankommen würden. Er antwortete trocken: - Nie.
31.Dezember
Our Haus
Ich ging einfach hinter ihm her und verkniff mir dumme Fragen zu stellen. Das Wort "nie" zeigte seine Wirkung. Die vereisten Äste schlugen ins Gesicht, der im kalten Lampenlicht schimmernde Schnee generierte langsam aber sicher nervende Halluzinationen, man rutschte aus, stand, über den Rucksack laut fluchend, mit Hilfe anderer wieder auf und setzte den leidvollen Weg weiter fort. Irgendwann kam endlich eine Lichtung. Es war halb vier nachts und wir waren in Bowysche angekommen. Selbst Arthur konnte die Freude kaum verbergen. Mit einer zittrigen Stimme sagte er halblaut:
- "Herzlich willkommen zuhause."
Mein Gefühl ähnelte einem Orgasmus, nur von längerer Dauer. An der Eingangstür hing ein altes weißes Schild mit blauer Aufschrift aus der Zeit der Unfallfolgenbeseitigung: "Achtung! Diese Ortschaft wird von der Miliz der Stadt Pripjat bewacht. Die Wache befindet sich in der Rote Berg Strasse Nr.2." Irgendeiner von den Samohodi (so nennt man die Stalker im Volksmund) muss das Ding hierhergeschleppt und an der Eingangstür angebracht haben. Im Inneren war es sauber und sehr gemütlich eingerichtet: mehrere Betten, ein Tisch, ein paar Bänke, Stühle und Schränke, komplettes Kücheninventar und ein großer gemauerter Ofen waren mehr als man sich nach dem höllischen Trip durch den eingefrorenen Wald vorstellen konnte. Kurzer Hand machte man den Ofen an, nahm ein paar kräftige Schlucke aus der Wodkapulle und fiel tot um. Wortwörtlich tot.
Der Morgen danach
Als ich zu mir kam war es schon hell. Der Rest der Truppe schlief noch, oder tat nur so. Trotz eines recht hochwertigen Schlafsacks, dessen Temperaturbereich mit bis minus 10 angegeben war, spürte ich unterhalb der Knie kein Gefühl mehr in den Beinen. Dabei hatte ich recht dicke Socken und gute Wanderschuhe an. Ich blieb noch eine Weile liegen, weil ich erst dachte, dass es ohne den Schlafsack noch kälter werden würde. Es war ein Trugschluss. Die Rettung hieß Holz sammeln und dabei die Füße warmtreten. Ich ging nach draußen, als die Sonne schon hoch über dem Horizont stand. Die Kulisse war einfach unfassbar: Alles, vom kleinsten Grashalm, über Äste und umgefallenen Bäume, war mit einer dünnen Eisschicht bedeckt und mit Schnee überpudert. Die Sonnenstrahlen verwandelten das über alles gefrorene Wasser zur einer bunten Kristallwüste, schön und lebensfeindlich zugleich. Es war windstill, sonnig und verdammt frostig, so dass man bereits nach wenigen Minuten ohne Handschuhe kein Gefühl mehr in den Fingern hatte. Dabei darf man bei der Beschreibung dieses gewisse etwas nicht vergessen - dieses spezielle Gewürz, den Zauber der Zone, die Prise der Verlassenheit, wie auch immer man es nennen will und damit meine ich ganz bestimmt nicht die Strahlung...
Ich nahm das Ganze eine Weile mit meiner GoPro auf, bis die Hände vor Kälte zu zittern begannen und das Filmen unmöglich wurde. Trotz allen Frierens in der Welt - für diesen Anblick hätte es sich gelohnt selbst ans Ende der Welt zu gehen..



Ich kehrte zurück ins Haus und läutete mit einem munteren "Aufstehen! " den letzten Tag des Jahres 2015 ein.. Als erstes wurde der Ofen mit tiefgefrorenen Zaunlatten gefüllt und auf Betriebstemperatur gebracht. Die Bude wurde halbwegs warm, so dass man wenigstens die Jacken ausziehen konnte. Unsere bis dahin einzige weibliche Begleitung, namens Natalie, begann den Inhalt der Rucksäcke im Küchenschrank zu verstauen. Es war wirklich mehr als genug da, sogar mehr als man auf manchen Festtagstischen in der Zivilisation vorfinden würde. Nach einem kompakten Frühstück machte ich mich auf den Weg die Gegend um unser Haus zu erkunden. In der unmittelbaren Nähe befand sich ein kleines Lebensmittelgeschäft dessen Lagerraum mit alten Holzkisten überfüllt war. Diese hatten wir später zu Unmengen im Ofen verfeuert. In dem Kulturhaus daneben fand ich ein großen Plakat des kommunistischen Anführers Wladimir Lenin. Ich nahm es mit und befestigte ihn stolz mit gebrauchten Pflastern an der Tür unseren Wohnzimmers. Er schaute auf uns mit diesem unglaublich lebendigen, durchdringenden und zukunftsweisenden Blick, ähnlich dem der Mona Lisa, der Blick, vor dem man sich kaum verstecken kann. Oleg kam rein und hieß uns rauszugehen - er hätte Kratzspuren eines Luchs' in einem Nachbarhaus entdeckt. Tatsächlich, das Tier hatte beim Aufsteigen zum Dachboden tiefe Kratzer an der Wand hinterlassen. Das Haus wurde kurzer Hand "Luchsbau" getauft. Es dämmerte. Bei Kerzenschein bereiteten wir uns auf Sylvester vor. Arthur und Wowa besorgten aus dem Wald einen Tannenbaum und schmückten diesen fantasievoll mit allem was man so im Haus fand. Zu meinem Erstaunen holte Arthur eine selbstgebaute Lichterkette und einen Stern aus dem Rucksack. Mehr ging nicht. Jedenfalls nicht in dieser abgelegenen Einöde am Rande der menschlichen Zivilisation.. Doch weit gefehlt, als nächstes holte er mehrere Weihnachtsmützen und eine Flasche rosafarbenen Sekts..

Die Kratzspuren des Luchs

Die Silvesterfeier
Der Tisch war so im Überfluss gedeckt dass ein Teil der Speisen auf die Fensterbank gestellt werden musste. Ein altes Tongefäß, nach ukrainischer Tradition, gefüllt mit Kartoffeln und Speck brutzelte im Ofen. Die Powerbank sorgte für die Tannenbaumbeleuchtung und Musik, der Alkohol für die passende Stimmung und nur Onkel Lenin an der Wand ließ sich durch nichts beirren und schaute schweigend mit unverändertem Blick auf das bunte Treiben mitten im Nirgendswo. Es blieben nur wenige Stunden bis zum Jahreswechsel. Nach einem Telefonat verkündete Oleg, dass sich morgen drei weitere Personen anschließen würden. Platz wäre auf jeden Fall genug für alle da. Danach trug er uns mit künstlich aufgesetzten theatralischen Gesten ein echtes Stalker Gedicht vor. Darin ging es um weite Wege, schwere Rucksäcke, schmerzhafte Blasen an den Füßen, Badewannen voller Wodka und Säcke voller Gras und noch einen Haufen sinnloser Wörter, die sich halbwegs aufeinander reimen ließen. Es war ein wirklich schwacher literarischer Vortrag, der aber trotzdem alle in Stimmung brachte. Arthur holte die Sektflasche, verteilte die Wunderkerzen und fing an die Sekunden rückwärts zu zählen.. Man sagt, dass so wie man in das neue Jahr reinkommt, so wird es dann auch werden. Wir gaben uns wirklich Mühe, so gut wie nur unter diesen Umständen möglich, ins neue Jahr 2016 rein zu kommen. Und wenn ich jetzt auf das Jahr zurückblicke kann ich nur behaupten, dass es sich bewahrheitet hat. Manchmal ist es eben nötig alles Alte niederzubrennen und wie der Phönix neu aus der Asche aufzustehen. Die Flasche spuckte laut den Korken an die Decke, wir stießen mit einem merkwürdig rosa-farbenden Sekt an und wünschten uns gegenseitig nur das Beste für 2016. Es war fast schon dekadent für den sonst so rauen Alltag eines illegalen Zonengängers - während mehrere Stalker Gruppen irgendwo in den eiskalten, fensterlosen Wohnungen in Pripjat dabei waren sich den Kältetod zu holen, feierten wir mit allem was das Herz begehrt in völliger Sicherheit vor Bullen in einer gemütlich warmen Bude irgendwo mitten im Nirgendswo. Diese Vorstellung gefiel mir richtig gut. Nach einem ausgiebigen Festtagsessen ging es mit einer Flasche Wodka nach draußen. Oleg holte irgendwo ein paar Böller her, schrie laut "Allah Akbar" und zündete diese nacheinander an.
- "Das ist eben das Geile an Bowysche", sagte er: - "Hier kannst du ruhig einen Nuklearsprengsatz zünden und niemand würde es jemals mitkriegen!"
Wir gingen wieder rein, hievten ein dicken Zaunpfahl in den Ofen und legten noch eine Runde Selbstgebrannten nach. Danach wünschten alle dem "Anführer aller Proletarier weltweit" eine Gute Nacht und gingen schlafen...



1. Januar. Ein neuer Tag
Ich wurde mit den ersten Lichtstrahlen wach und ging sofort nach draußen um den Sonnenaufgang aufzunehmen. Es war mal wieder unglaublich schön und kalt. Ich legte mich komplett in den Schnee und filmte die ersten Sonnenstrahlen, die über den Waldrand auf die verschneite Lichtung fielen. Es wurde wieder schmerzhaft kalt an den Fingern und ich ging rein.

Die Mannschaft kam langsam in Bewegung. Das mitgebrachte Wasser reichte nicht mehr um für alle Kaffee zu kochen, was bei dem vielen Schnee draußen überhaupt kein Problem darstellte. Ich nahm eine große Blechschüssel und ging nach draußen zum Stahl. Das gewellte Dach bot eine perfekte Möglichkeit den Schnee einzusammeln ohne ihn zu berühren. Ich erinnerte mich plötzlich an die Worte eines alten Sowjetrockliedes: " Es ist ein seltsamer Platz, die Kamtschatka.." Später sagte irgendwer, dass das die alten Dachplatten Asbest enthielten. Naja, hoffentlich hatte unser Filter gute Dienste geleistet... Nach dem Frühstück beschlossen wir in das Dorf Tolstiy Les (ukr. Dicker Wald) zu spazieren. Nicht weit vom Dorf befand sich eine Eisenbahnstation, die wir ebenfalls besichtigen wollten. Wowa blieb freiwillig zuhause um seinen Blasen an den Füßen Zeit zu geben. Als kleinen Trost goss ich ihm einen Schnaps ein, ließ Schmerzsalbe und Pflaster da und ging raus. Auf halbem Weg befand sich ein alter verlassener Kontrollpunkt wo die Militärwache zu Zeiten der Katastrophe ihre Schichten geschoben hat. Ein 2 mal 2 Meter großer Betonklotz mit einer Stahltür und einem Fenster aus dickem gelbem Bleiglas zeugte davon wie hoch hier einst die Strahlung gewesen sein muss.

Nach einigen Kilometern Spaziergangs durch den winterlichen Wald erreichten wir die ersten Häuser des Dorfes und später die Station. Diese bestand aus einem größeren Hauptgebäude mit zwei großen Öfen und einem weiteren Haus in dem die Schaltanlage für die Gleise installiert war.

Hier fanden wir eine Petroleumlampe in Form eines Metallkastens in dessen Wände Löcher gebohrt waren, die auf der einen Seite einen Totenkopf mit Knochen bildeten auf der anderen das Wort "kontaminiert" darstellten. Langsam dämmerte es. Wir nahmen die Lampe mit, installierten in das Innere eine LED Leuchte und machten uns damit auf den Weg zurück..



Wowa hatte seinen Job während unserer Abwesenheit gut gemacht - in der Hütte war es bullenheiß. Die anderen drei, die laut Oleg heute Abend zu uns kommen würden, hätten soeben die Brücke passiert, hieß es nach einem Telefonat. Eigentlich hatten wir vor auf sie zu warten, doch die Hitze des Ofens und der gute Selbstgebrannte zeigten ziemlich schnell ihre Wirkung. Mitten in der Nacht ging die Tür auf. Drei verschneite Gestalten stürzten mit lautem Gebrüll in die warme Stube hinein. Einer von Ihnen war ungewöhnlich leicht bekleidet und sichtlich am frieren. Alle umarmten sich, ich stellte mich auch kurz vor. Juri, der halberfrorene, begann hastig zu erzählen:
- "Die Grenzsoldaten haben meinen Rucksack geklaut! Mit allem drin, Portemonnaie, warme Klamotten, Alles! Die Schweine feiern jetzt wahrscheinlich irgendwo gemütlich und saufen dabei meinen 12Jährigen Cognac!"
Er erzählte weiter wie sie zu dritt an der Brücke ankamen und er als erster alleine rüber gegangen war um aufzuklären. Er wollte fast schon die anderen rufen als plötzlich die Lichter eines Autos angingen und sich näherten. Er warf den schweren Rucksack ins Gebüsch und lief zum Fluss hinunter um sich hinter den Bäumen zu verstecken. Aus dem Auto stiegen zwei Gestalten und suchten nach ihm mit Taschenlampen. Der eine fand den Rucksack und rief ein lautes "Danke" in die Dunkelheit. Dann fuhr das Auto davon. Eine Weile später kamen Julia und Igor über die Brücke und machten sich mit Juri ohne Rucksack auf den Weg nach Bowysche.
- "Bittere Story...", sagte ich zu Juri. "Meinen Respekt, dass du dich trotzdem entschieden hast ohne gar nichts hierher zu kommen!"
Danach tranken wir noch eine Runde, packten einen dicken eisgefrorenen Zaunpfahl in den Ofen und gingen wieder schlafen. Julia bekam ein letztes freies Bett, Igor legte sich zu Wowa, Juri nahm sich einen kaputten Schlafsack der von der letzten Tour hier geblieben war und legte sich direkt vor dem Ofen auf den Boden.
Der 2. Januar
Ich bin kein Langschläfer und so wachte ich auch diesen Morgen als erster auf, als es draußen noch dunkel war. Die Versuche wieder einzuschlafen blieben erfolglos, so lag ich im Bett und hörte dem Knistern des Ofens zu, der immer noch an dem dicken Zaunpfahl zu knabbern hatte. Die Vorstellung irgendwo weit weg von der Zivilisation, hinter den Stacheldrahtzäunen, unpassierbaren Eiswüsten und nimmer endenden Wäldern in einer warmen Stube im Schlafsack zu liegen, gab mir nach allen Strapazen der letzten Jahre meines Lebens ein unglaubliches Gefühl der Geborgenheit, dass ich so intensiv schon lange nicht mehr verspürt hatte. So lag ich da und genoss jeden Augenblick dieser Zeit, oder besser gesagt der Zeitlosigkeit, bis die ersten Anzeichen des Morgengrauens langsam aber sicher den neuen Tag ankündeten. Plötzlich verwandelte sich das leise Knistern aus dem Ofen in einen stumpfen Knall, als ob etwas schweres zischend auf den Boden fiel. Ich stand instinktiv senkrecht im Bett und sah wenige Zentimeter neben Juris Kopf einen glühenden Klumpen in der Größe eines Fußballs. Ich schrie laut etwas undefinierbares, sprang vom Bett und zog, den immer noch friedlich schlafenden, Juri ein Stück von Ofen weg. Alle waren sofort wach. Ich schnappte nach der Ofengabel und legte die dicke Glut zurück in den Ofen. Der Ofen war von innen weiß vor Hitze. Juri brabbelte etwas im Halbschlaf vor sich hin und guckte mich verstört an, als ob ich ihm etwas schuldete. Ich sagte nur:
- "Guten Morgen, mein Lieber! Steh auf, nicht das du heute deinen zweiten Geburtstag verpennst!" Ein paar Zentimeter weiter und.. ich will es mir gar nicht vorstellen.. Der Tag begann wieder mit der gleichen Prozedur des Schneesammelns. Beim Anblick des Hauses fiel mir etwas seltsames auf: Der Rauch zog nicht nur aus dem Schornstein, sondern auch durch die Lücken zwischen den Dachblechen hoch. Ich berichtete den Jungs davon und gab einen Rat das Ding bei Gelegenheit auf undichte Stellen zu prüfen und eventuell zu reinigen. Das Wetter stimmte wieder alle auf einen Spaziergang durch die winterliche Zone ein.

Diesmal wollten wir nach Lubjanka. Im Dorf gab es sogar einen einzigen Bewohner - der Selbstsiedler, wie man die nach der Katastrophe zurückgekehrten Bewohner nennt, war ein alter Opa, der keinen Spaß verstand und bei jeder Begegnung mit den Stalkern im besten Fall die Bullen holen würde. Im schlechtesten..., sein Doppellaufgewehr! Die vereiste Landschaft in der prallen Sonne verwunderte mich jedes Mal aufs Neue. Völlig egal wo ich das Objektiv meiner Kamera draufhielt, jeder Schuss war ein Volltreffer. Oleg fand irgendwo ein paar alte Skier ohne Stöcke. Als Ersatz für die Stöcke wurden kurzer Hand zwei uralte Ofengabeln aus einem der Häuser organisiert.


Die Stimmung war passend zum Wetter und der mitgenommene Jägermeister verlieh allem noch etwas mehr Kontrast. Irgendwann verloren sich alle aus den Augen. In einem der Häuser fand ich ziemlich gut erhaltenes Inventar - hier hat scheinbar vor kurzem noch ein Selbstsiedler gelebt. An der Wand hing ein Kalender, datiert auf das Jahr 2007. Ich schaute mir einen ganzen Stapel alter Briefe und Ansichtskarten an, als irgendwo, nicht weit entfernt, eine Fensterscheibe laut zu Bruch ging und direkt im Anschluss eine zweite und danach wieder eine. Ich ging hinaus und folgte der Richtung aus der die Geräusche kamen. Es war Arthur. Mit der Ofengabel bewaffnet, zerschlug er nach und nach alle Scheiben eines Hauses. "Geht´s noch?" fragte ich ihn allen Ernstes. "Man hört das kilometerweit! Und vor allem wozu das Ganze, ist dir etwa langweilig?" Er antwortete mit bedrückter Stimme: "Wo sonst, außer hier auf der Müllhalde, kann man das machen ohne Ärger zu bekommen!?" und zerschlug direkt die nächste Scheibe. Ich griff nach der Ofengabel und nahm sie ihm weg. Dann holte ich die halbleere Colaflasche mit Jägermeister und hielt sie ihm vors Gesicht:
- "Komm mal runter man, verstehe gerade nicht was das soll...!"
Er trank mehrere große Schlücke und fiel mit dem Gesicht voran auf das alte verstaubte Sofa. Ich beobachtete ihn eine Weile und ging raus. Die Straße runter fand ich den Rest der Truppe. Ich schlug vor zu Arthur zurückzukehren. Als wir dorthin zurückkamen, lag er immer noch mit dem Gesicht nach unten auf dem Sofa.

- "Ich glaub, der ist fertig mit der Welt.", sagte ich und holte Tassen und Gaskocher raus um Tee zu kochen. Eine Weile später, als wir mit Tee trinken fertig waren, kam Arthur zu sich und wir machten uns auf den Weg nach Hause. Angekommen, setzten wir die Feier in der gleichen Manier fort. Irgendwann abends erzählte mir Arthur was mit ihm los war. Es ging um Julia. Er lief ihr schon seit Jahren hinterher und sie ließ ihn jedes Mal kalt abblitzen. Noch schlimmer - anstatt mit ihm mitzukommen, entschloss sie sich mit Juri in die Zone zu gehen, einem seiner besten Kumpels. Ich tröstete ihn, goss immer wieder neue Runden ein und erzählte von meinen Erfahrungen die ähnlich waren. Ich müsste lügen um zu erzählen wie dieser Abend ausgegangen war. An der Stelle kommt jetzt einfach mal ein Filmriss..